Leseprobe “Gegenwende”; Gmeiner-Verlag; Februar 2010
Juli 2007
“Pass auf!” Ludger Rotgerber erstarrte vor Schreck. Die Segeljacht schoss auf eine knallgelbe Tonne zu, die plötzlich wie eine Felsnadel aus dem Dunst auftauchte. Mit Gewalt riss er sich von dem Anblick los und schrie in Richtung achteren Steuerstand: “Hau das Ruder rum – eine Untiefentonne voraus!”
Göran Grewe reagierte sofort, wirbelte das Steuerrad nach rechts und drückte es gegen den Anschlag. “Liegt hart Steuerbord!”
Ludgers Blick flog wieder vor ins graugrüne Wasser. Der spitze Bug der Jacht durchschnitt die Wellen in direkter Linie zum Hindernis. Ein Zusammenstoß mit dem gelben Stahlkoloss wäre eine Katastrophe – der Holzrumpf ihrer Jacht würde zerschellen und binnen Minuten sinken. Ludger starrte zur Mastspitze hinauf. Zum Einholen der Segel war es längst zu spät. Ängstlich schaute er neuerlich nach vorn und taxierte den schwindenden Abstand. Wie von einem Gummiseil gezogen, rasten sie genau auf das Hindernis zu. Die Sekunden verstrichen. Dann endlich spürte Ludger den ersehnten Ruck unter seinen Füßen. Und tatsächlich, der Bug wanderte nach rechts, anfangs nur zögerlich, schließlich unaufhaltsam, immer weiter von der Tonne weg, die sie wenig später an der Backbordseite passierten. “Das war knapp”, seufzte Ludger, löste sich von der Reling am Bug und hangelte nach hinten.
“Spinnst du?”, schrie ihm Göran entgegen. “Bleib auf deinem Posten!” Du kannst mich, dachte Ludger und sprang in den Steuerstand. “Wir müssen langsamer segeln. Der Regen. Der Dunst. Willst du uns umbringen?” Göran ließ das Ruder los und deutete auf die Armaturen vor ihm. Das Steuerrad pendelte leicht hin und her, als würde ein Autopilot den richtigen Kurs halten. “Es ist genau 14.52 Uhr. Bis Helgoland brauchen wir noch drei Stunden. Wir schaffen’s gerade so.” Ludger versuchte erneut einen Einwand, aber Göran fuhr ihm über den Mund: “Erinnerst du dich? Die Anweisung war eindeutig: ›Treffpunkt 10. Juli – 18.00 Uhr und keine Minute später. Kommen Sie 18.01 Uhr, platzt das Geschäft.‹ Sein Blick huschte die Instrumente entlang. Sind wir nur kurze Zeit überfällig, können wir die halbe Million vergessen.” Mit ausgestrecktem Arm wies er zum Bug. “Los. Ab nach vorn!” Beeindruckt von Grans Worten, drehte sich Ludger schweigend um und stakste auf seinen Ausguckposten.
Eine viertel Stunde darauf zogen Ludger Kopfschmerzen von den Schläfen in die Stirn. Der scharfe Wind und die Gischt quälten ihn. Immer wieder wischte er sich mit den nassen Händen das Gesicht ab und verteilte so das salzige Meerwasser über Augen, Mund und Nase. Schließlich glaubte er, ihm schwinden die Sinne. Der Horizont wich zurück, immer weiter, als würden sie rückwärtsfahren. Ludger kniff die Augen zusammen – aber die Illusion blieb: Die Linie zwischen Himmel und Meer entfernte sich stetig. Er blickte zur Seite. Die Schaumkämme der Wellen hoben sich augenfällig vom Grau des Wassers ab, viel deutlicher als zuvor. Na klar – die Sicht hatte sich verbessert. Deshalb auch der zurückweichende Horizont. Sehnsüchtig wandte sich Ludger nach hinten und sah zum Steuerstand, brachte jedoch kein Wort über die Lippen.
Göran musste seinen Blick bemerkt haben, schaute in die Runde und zuckte mit den Schultern. “Also gut; verschwinde da vorn.”
Na endlich. Ludger hangelte zum Heck, schob sich wortlos an Göran vorbei und kroch in die Kajüte hinunter. Ein heißer Tee würde ihm jetzt guttun. Er schüttelte die Thermoskanne, in der nur ein mickriger Rest plätscherte. Zum Wasseraufsetzen fehlte ihm die Energie. Er stellte die Kanne beiseite, streifte die Wetterjacke ab und legte sich auf den Schlafsack, der die Mitte des winzigen Raums ausfüllte. Im engen Ausschnitt des Niedergangs sah er Göran am Ruder stehen, souverän wie der Fliegende Holländer. Wo nahm der Kerl die Kaltschnäuzigkeit her? Mit Sicherheit brauchten er und seine Firma das Geld, sonst hätte er diese Aktion kaum gestartet. Und Ludger könnte all seine Probleme abschütteln – wenn das Geschäft gelang, wenn die Geldübergabe auf Helgoland klappte? Aber würden die ihnen das Geld übergeben? Ließen die sie anschließend einfach ziehen? Helgoland lag im Meer – ohne Fluchtauto, ohne Autobahn. Stattdessen mit unzähligen Urlaubern zu dieser Jahreszeit. Auch bei diesem Sauwetter? Hätte er sich bloß nicht auf die Erpressung eingelassen.
Ludger beugte sich zur Seite, fingerte ein hellbraunes Bündel aus seiner Reisetasche an der Bordwand und wickelte das Leinentuch auseinander. Die schwarze Oberfläche der Pistole schimmerte matt im Dämmerlicht der Kajüte; am Lauf blitzte silbern ein langer Kratzer. Langsam führte Ludger die Mündung an seine Nase, als könnte er den Schmauchgeruch von vor 17 Jahren noch riechen. Aber nur ein Hauch von Öl und Stahl haftete dem Metall an. Er legte die Pistole ab und griff nach der Waffenkarte; giftgrün, groß wie eine Spielkarte, in Plastik eingeschweißt, mit zwei braunen Fettflecken am oberen Rand. Obwohl er die Nummer so oft kontrolliert hatte und sie mittlerweile auswendig kannte, verglich er abermals: ›B8058‹ stand auf dem Verschluss der Waffe und ›Makarow – B8058‹ auf der Karte; ergänzt durch den Namen des ehemaligen Besitzers: ›Korvettenkapitän Christian Koschak – 3. Flottille – 3. Hilfsschiffs- und Bergungsdienstabteilung – Stralsund‹. Ludger fasste erneut in seine Reisetasche. Den lichtblauen Umschlag des Notizbuchs hatten die Jahre ausgeblichen, die Ecken waren abgestoßen und das Papier vergilbt. Dieses Büchlein und die Pistole würden ihnen heute aus der größten Not helfen.
“Was soll das denn?”, rief Göran plötzlich an Oberdeck. “Eh, komm schnell hoch.”
Mit fahrigen Händen packte Ludger das Bündel zusammen, verstaute es in der Tasche und hastete den Niedergang hinauf.
“Schau mal dort.” Gran wies Steuerbord voraus, wo sich die graue Silhouette eines Schiffes vom Horizont abhob.
Ludger griff nach dem Fernglas, das Göran ihm reichte, und sah hinüber. Ein Küstenmotorschiff. Na und?
“Es hält seit zehn Minuten auf uns zu.”
“Weichst einfach aus”, sagte Ludger, ohne das Fernglas abzusetzen.
“Bin ich schon. Zweimal.”
“Und?”
“Als würden wir deren Pott wie einen Magneten anziehen, richten die ihren Kurs immer wieder auf unseren Kahn aus
Ludger stutzte. “Die führen keine Flagge.”
“Eben. Genau das hat mich auch gewundert.”
Der weiße Kamm der Bugwelle des fremden Schiffes pendelte im Takt der Wellen auf und ab. Unaufhaltsam glitt der graue Rumpf auf sie zu. An Oberdeck entdeckte Ludger ein orangefarbenes Schlauchboot. Daneben standen fünf Männer in Schutzanzügen. Ein Prisenkommando? Wollen die uns aufbringen? Im Näherkommen erkannte er jetzt durch das Fernglas die Gesichter der Männer, die ungerührt herübersahen. Der Bursche links außen, mit Vollbart und wirren Locken, einen Kopf größer als seine Kameraden, erinnerte Ludger an den Seewolf aus einer der Jack-London-Verfilmungen. Er setzte das Fernglas ab, drückte es Göran in die Hand und stieg nach unten. Die Pistole musste verschwinden. Wenig säpter kehrte Ludger an Deck zurück. Das fremde Schiff stoppte in der Nähe der Jacht und ließ das Schlauchboot zu Wasser. Das Prisenkommando kletterte hinein und steuerte auf sie zu. Ludger suchte den Horizont ab. Die See um sie herum schimmerte völlig verlassen im trüben Licht des Nachmittags; sie würden den Kerlen schutzlos ausgeliefert sein. Er zog sein Handy heraus. Das nahmen die ihm nur ab. Er warf es über Bord, seine Kontaktdaten bekamen die nicht. Und falls das Überfallkommando es auf die Pistole und das andere Beweismaterial abgesehen hatte, Ludgers Bündel lag im Wellentunnel des Hilfsantriebs gut versteckt.
Dann klatschte das Schlauchboot an die Bordwand ihrer Jacht, Leinen flogen herber und vier der Männer sprangen zu ihnen hoch. Göran schnappte sich einen der Bootshaken und stürmte auf den Seewolf zu. Der wich geschickt aus, packte den Bootshaken, zerrte daran und streckte Göran zu Boden. Dieser versuchte, sich aufzurappeln. Aber der Seewolf setzte nach. Göran wehrte sich. Irgendetwas schwirrte durch die Luft. Der Seewolf holte aus und schlug Göran mit wenigen Fausthieben nieder. Währenddessen hatte ein weiterer Angreifer Ludger gepackt, ihm die Hände mit Handschellen auf den Rücken gebunden und in Richtung Schlauchboot geschoben. Der Seewolf schleifte den reglosen Göran zur Reling und warf ihn wie einen Kartoffelsack in das Schlauchboot. Ludger musste hinterherspringen. Schließlich nahmen die Kerle ihre Jacht ins Schlepptau und fuhren zum Schiff hinüber.
Dort angekommen landeten die beiden Gefangenen in einer kleinen Kammer; zwei Mal drei Meter groß, mit einem Bullauge und einer schweren Stahltür. Ein Regal, mit Tauen, Bojen und Putzlappen vollgestopft, das einzige Mobiliar in dem Raum, füllte eine der Wände. Die anderen schimmerten im dreckigen Weiß einer Gefängniszelle. Ludger ging zum Bullauge, während Göran sich vor dem Regal ausstreckte und die Augen schloss. Lass mich in Ruhe – so deutete Ludger die Geste. Er sah hinaus. Die Wellen türmten sich auf und peitschten von hinten auf das Schiff ein. Die tief hängenden Wolken fegten über den Himmel. Ihr stählernes Gefängnis gierte und stampfte. Ludgers Magen begann gegen die Schaukelei aufzubegehren. Wie gern hätte er frische Luftgeschnappt – aber das Bullauge war fest verschlossen.
“Das sieht ja richtig gut aus”, sagte Göran, der auf einmal neben Ludger hinaussah. ...
|