Leseprobe
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Leseprobe “Stahlsarg”; ppks-Verlag; Mai 2012

1 - Verabredung

Dienstag - 25. Januar

Wie beinahe täglich kam Steffi Gutzeit auch an diesem Abend erst spät nach Hause. Mit Minusgraden war der Winter in Bremen eingekehrt, sodass sie sich auf die wohlig warme Wohnung freute. Im Korridor warf Steffi die Post auf die kleine Anrichte, streifte die Schuhe ab, hing ihren Mantel an die Flurgarderobe und ging ins Wohnzimmer. Geschafft fiel sie auf das Sofa, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Diese Momente der Besinnung gönnte sie sich jeden Tag. Heute währte die Pause allerdings nur kurz - ihr Handy klingelte.

Sie nahm es vom Tisch, warf einen Blick auf das Display und drückte die grüne Taste. “Hey Nils, grüß dich.”

“Hallo Steffi! Wie geht’s dir?”

Die beiden hatten zusammen bis vor fünf Jahren an der Uni in Braunschweig Kraftfahrzeugtechnik studiert. Mit dem Schritt in den Berufsalltag hatten sich ihre Wege getrennt. Während Steffi heute ihr eigenes Ingenieurbüro führte, arbeitete Nils Schulze als Anwendungsingenieur bei der CarTech, einer Firma, die Ausrüstungen für Autowerkstätten herstellte. Er war ein begnadeter Verkäufer; selbst Beduinen in der Wüste würde er Elektroheizungen verkaufen.

Steffi sah auf ihre Armbanduhr, die Viertel vor zehn anzeigte. “Was verschafft mir die Ehre deines späten Anrufs?”

“Ich brauche deinen Rat.”

Steffi verstand Nils kaum. “Was ist das für ein Lärm im Hintergrund?”

“Fröhliche Zecher. Ich wollte ungestört nachdenken und das kann ich in meiner Stammkneipe am besten.” Er räusperte sich. “Du musst mir helfen.”

“Schieß los.”

“Unser Alter verbreitet Hektik. Wir haben eine neue Reparaturmethode samt Gerätetechnik entwickelt, und die soll nun mit Macht in den Markt gedrückt werden. Am kommenden Montag, gleich nach der Verbandstagung, gibt sich seine Majestät König Düring die Ehre und besucht die Firma. Ich soll unser Wunderwerk der Technik präsentieren und dessen Vorzüge gegenüber marktüblichen Praktiken anpreisen.”

Steffi hatte gerüchteweise von den Neuerungen der CarTech gehört. Angeblich erlaubte deren neues System das vollautomatische Arbeiten; ohne irgendwelche Parameter einstellen zu müssen, konnten Unfallreparaturen durchgeführt werden. Mehr wusste sie aber auch nicht.

“Was kann ich dabei tun?”, wollte Steffi wissen.

“Schau dir einige Unterlagen an und sag mir deine Meinung. Du kennst den Markt und die Praxis in den Werkstätten.”

Das Angebot klang verlockend. Steffis Ingenieurbüro entwickelte Reparaturtechniken für die Automobilindustrie. Und dafür musste sie stets die neuesten Entwicklungen kennen. Die Unterlagen von Nils interessierten sie wirklich.

“Ich kann mir eure Neuheit ja mal anschauen. Bestimmt fällt mir anschließend einiges ein, mit dem du vor Düring glänzen kannst.”

“Vorerst musst du dich allerdings mit Papier zufriedengeben. Das Projekt läuft bei uns unter absoluter Geheimhaltung. Bis zur ersten Veröffentlichung darfst du kein Wort darüber verlieren.”

“Verschwiegenheit gehört zu meinem Geschäft.”

“Ich weiß”, entgegnete Nils im Brustton der Überzeugung, “deshalb habe ich dich auch angerufen.”

“Wann bekomme ich die Unterlagen?”

“Die müsstest du dir morgen früh um sechs bei mir in der Firma abholen. Ich habe noch einiges vorzubereiten und fahre dann mit dem Alten weg. Kannst du kommen?”

“Kein Problem.” Steffi ging in Gedanken ihren Terminkalender durch. “Reicht’s, wenn ich dir meine Ausarbeitung am Freitag schicke?”

“Okay.” Nils klang erleichtert, als hätte sie ihm einen unbequemen Kunden abgenommen. “Morgen um sechs vor dem Verwaltungsgebäude.”

“Alles klar. Gute Nacht.”

Nils verabschiedete sich und legte auf.

Nachdenklich sah Steffi noch einige Augenblicke auf das Telefon und legte es dann auf den Tisch. Nils’ Unterlagen boten ihr die Möglichkeit, zukünftig lohnende Aufträge an Land zu ziehen - neue Technik für die Werkstatt zog neue Arbeitsabläufe nach sich, und die erarbeitete Steffi zusammen mit ihrem Mitarbeiter. Wenn sie jetzt frühzeitig Einblick erhielt, bekam sie einen Vorsprung vor der Konkurrenz.

Zufrieden lief Steffi in den Korridor und holte die Post. Ihr Blick fiel in den Spiegel. Sie schob den Kopf näher heran und strich sanft über die Haut unter den Augen. Von den dunklen Schatten, die sich nach stressreichen Tagen dort zeigten, war zum Glück heute nichts zu sehen. Damit das so blieb, würde sie nachher gleich ins Bett gehen, morgen früh um fünf klingelte der Wecker. Prüfend drehte Steffi den Kopf hin und her. Die Lachfältchen in den äußeren Augenwinkeln gruben sich immer tiefer ein. Ob sie einmal eine Faltencreme ausprobieren sollte? Sie zuckte die Schultern - vielleicht im nächsten Urlaub, wann immer der auch kommen würde. Steffi zog das Gummiband aus den blonden Haaren, schüttelte den Kopf und lief in die Küche. Mit einem Joghurt hockte sie sich anschließend für einige Minuten vor den Fernsehapparat und ging schließlich schlafen.

°°°

Die Nacht hatte die Temperaturen auf minus zehn Grad sinken lassen. Da kein Schnee gefallen war, kam Steffi dennoch am nächsten Morgen ungehindert durch den gerade erwachenden Berufsverkehr und erreichte pünktlich zehn vor sechs das Industriegebiet am Hohentorshafen. Sie parkte ihr Auto vor der CarTech und lief auf das Betriebsgelände. Während die Fenster des Produktionsgebäudes hell leuchteten, lag das Verwaltungshochhaus dunkel und verlassen da. Einige eingemummte Gestalten hasteten an Steffi vorbei. Die Nachzügler würden gerade noch rechtzeitig zum Schichtbeginn um sechs ihren Arbeitsplatz erreichen.

Neben Steffi hupte ein Auto. Nils winkte und bog in einer eleganten Schleife auf einen der reservierten Parkplätze ein.

“Auf dich kann man sich wenigstens verlassen”, kam er ihr lächelnd entgegen. “Wir müssen uns beeilen.” Er begrüßte Steffi mit Handschlag. “Ich hole schnell die Unterlagen und erklär dir im Vorführraum das Wichtigste.” Er schloss auf und öffnete die große Glastür am Eingang. Gemeinsam gingen sie den Korridor entlang.

“Kommst du auch zur Tagung am Freitag?”, fragte er.

“Nein.” Das kurze Wort verriet mehr von Steffis Enttäuschung, als ihr lieb war. Sie hatte es noch in keinem Jahr geschafft, eine Einladung zu der illusteren Runde zu bekommen. Ende Januar trafen sich die Vertreter der führenden deutschen Automobilhersteller mit ausgewählten Fachleuten, um einen gemeinsamen Ausblick auf die bevorstehenden Monate zu werfen. Gerade in diesem Jahr hatte Steffi auf eine Einladung gehofft, da sich die Herren in Bremen trafen.

“Nimm’s sportlich. Irgendwann kommen sie um dich als Fachfrau nicht mehr herum”, gab Nils mit einem Zwinkern zurück und wandte sich der Treppe zu, die rechts abging. “Warte bitte hier, ich komme gleich wieder.” Er hastete die Stufen hinauf.

Einige Meter weiter lag der Vorführraum. Hier präsentierte die CarTech den Kunden ihre Produkte und führte Seminare durch. Steffi ging vor und betätigte die Klinke; aber die Tür war verschlossen.

Dann kam Nils wieder herunter. Er hielt einen blauen Hefter hoch. “Ist zwar nicht viel, aber ich erklär dir noch schnell einige Details.” Mit einer Chipkarte entriegelte er die Doppeltür zum Vorführraum und schaltete das Licht ein.

Als hätte ein Blitz sie getroffen, durchfuhr Steffi ein tiefer Schmerz. Gebannt starrte sie auf den dunkelroten Fleck am Boden. Ihr Kopf rebellierte, rebellierte gegen den Anblick. Sie musste die Augen abwenden, klammerte sich an Nils’ Arm und vergrub ihr Gesicht in seinem Sakko.

“Scheiße”, röchelte er und tastete nach ihrem Kopf.

Zögernd löste Steffi ihr Gesicht aus dem weichen Stoff und sah zu der riesigen Blutlache.

Nils machte sich von ihr frei, ging zwei Schritte vor, hockte sich hin und musterte den Frauenkörper am Boden. “Die Ruppert.”

Wie von einem Schlangenbiss gelähmt, konnte Steffi keinen Muskel rühren.

Nils schaute zu ihr auf. “Wir müssen die Polizei rufen.”

...